„Die Ermittlung” von Peter Weiss als Projekt der historisch-politischen Bildung¹

27. Januar 2022 | Von | Kategorie: Vergangenheitspolitik

von Otto Böhm

Einleitung

Ich beginne mit dem verbreiteten Stichwort ‚Unbehagen an der Gedenkkultur‘. Zwar gehört mein Arbeitsbereich, die historisch-politische Menschenrechtsbildung[2], nicht im engeren Sinne zur Gedenkkultur. Doch gibt es viele Überschneidungsbereiche. Und bei dem von mir vorgestellten Thema und Projekt liegt dieser Zusammenhang auf der Hand.

Ich möchte zeigen, dass und wie sich das Stück für die Frage nach der Vergegenwärtigung der Shoah in der politischen Bildung eignet. Trotz eines prinzipiellen Einverständnisses will ‚Bildung nach Auschwitz‘ in Deutschland gegenwärtig gerade auch wegen des Unbehagens gut geplant und begründet sein. Das Theaterstück „Die Ermittlung“ von Peter Weiss ist mit seinem Gehalt und mit seiner kontroversen Wirkungsgeschichte Teil dieses Bildungszusammenhanges geworden. Die Berliner Germanistin Marita Meyer sieht in dem Stück einen Text,

„der bis heute überzeugende ästhetische Lösungen für zentrale Probleme der Darstellbarkeit des Holocaust besitzt. Ein sowohl dokumentierender als auch interpretierender Text, dessen literarische Mittel eingesetzt werden, um die Verbrechen ebenso wie den Frankfurter Prozess zum Teil unseres kulturellen Gedächtnisses werden zu lassen.“ (Meyer 2005, S. 273)[3]

Beides, der Prozess und das Stück über den Prozess werden zu Bestandteilen der westdeutschen Auseinandersetzung mit den Vernichtungslagern. Ich gehe davon aus, dass auch heute noch in Zusammenhängen der Erwachsenenbildung das Stück ein Lehrstück sein kann: über die NS-Verbrechen, über den Auschwitzprozess und über die ‚Vergangenheitsbewältigung‘[4]. Überragende Wirkung entfaltete es in der alten Bundesrepublik im Anschluss an den ersten Frankfurter Auschwitz Prozess (1963 – 1965). Seine damalige Kontroversität und Bildungswirkung können zum Bestandteil von historisch-politischer Menschenrechtsbildung werden. Aber welche Fragen stellen wir im Abstand von mehr als einem halben Jahrhundert an diese ‚Dokumentation‘ eines Prozesses, wenn wir sie für heute nutzbar machen wollen? Vor dem Hintergrund unserer Bildungsarbeit im „Memorium Nürnberger Prozesse“ halte ich dabei vor allem den Zugang über die Kategorien „Recht/Gerechtigkeit und Schuld“ für sinnvoll (Teil 2).

1. Wie könnte ein aktuelles Projekt konkret aussehen?

Das Stück wurde vor zehn Jahren vom Stadttheater Nürnberg schon einmal im Dokuzentrum, also in der NS-Kongresshalle, aufgeführt. Am 8. Mai 2022 wird das Theaterensemble Münster den ganzen Tag über in Dauerschleife „Die Ermittlung“ als Sprechtheater aufführen. Der Besuch einer Theatervorstellung könnte der Auftakt zu einer nachfolgenden Bildungseinheit sein. Als Workshop im Rahmen der politischen Bildung könnte ein derartiges Projekt gestartet werden, für Schulklassen, Bundeswehr-Gruppen oder in der Erwachsenenbildung. Die Bundeszentrale für Politische Bildung ermöglicht die Durchführung eines Bildungsprogramms durch die Dokumentation der Aufführung des Stückes in der Ost-Berliner Volkskammer 1965 (DVD: „auschwitz auf der bühne: peter weiss: die ermitttlung in ost und west, bpb, Bonn 2008). Zudem steht eine Dokumentation des NDR zur Verfügung (als Beilage von: Peter Weiss: Die Ermittlung – Oratorium in 11 Gesängen, Suhrkamp-Verlag, Frankfurt/Main 1968), ebenso Das Ende des Schweigens (hr.de) .

Mein Projekt/Konzept besteht aus drei Teilen:

  1. vorbereitend die Lektüre von “Meine Ortschaft”
  2. zentral ist die Vorführung oder der Besuch der “Ermittlung”,
  3. Workshop-Teil: Auseinandersetzung mit dem Stück und daraus entstehenden Fragen.

Das Stück von Peter Weiss (1916 – 1982) ist bekannt, zum Autor will ich hier erst gar nicht anfangen, verkürzende Sätze vorzutragen. Da ich zudem kein Germanist bin, stütze ich mich vor allem auf die Arbeiten von Marita Meyer. Sie schreibt:

„Zweierlei Weisen von Erinnerung prägen den Text der Ermittlung: Anamnese, die Arbeit an der Wieder-Erinnerung und die Aufdeckung von verdrängtem Wissen, ebenso wie Mnemosyne, die gestaltende Erinnerung.“ (ebda., S. 260)

Peter Weiss wollte ursprünglich Dantes „Göttliche Komödie” für seine Auseinandersetzung mit der Shoah als Vorlage nutzen. Er hat sich dann aber doch während des Frankfurter Prozesses, den er einige Male besuchte, für „Ermittlung“ als Titel entschieden und als Gliederung den Leidensweg der deportierten Opfer.[5] Das deutet auf sein Schwanken zwischen literarischen und politischen Ansprüchen hin. Ermittelt wird ein Sachverhalt, dessen politische Ursachen für Peter Weiss schon geklärt sind und die im Stück als kapitalismuskritische Erklärungsversuche des Zeugen 3 vorkommen. Die Spannung von Systemstrukturen und individuellem Leben kennzeichnet „Die Ermittlung“. Ich fasse mit Meyer zusammen:

„Der Text versucht, eine Vorstellung von der Todesmaschinerie und der fabrikartigen Vernichtung von Menschen zu vermitteln. Gleichzeitig wird die Aufmerksamkeit immer wieder auf individuelles Leiden und individuelle Entscheidungsspielräume gelenkt.“ (ebda., S. 258)

Zu Beginn will ich die leicht abschreckende Terminologie ‚Lehrstück‘ und ‚Dokumentation‘ korrigieren.[6] Das zeigt auch ein kurzer Blick auf die Veränderungen und Abweichungen bzw. Zusätze, die Meyer aufzählt, als wichtigste die Folgende:

„Die umfangreichste Ergänzung stellt die Hinzufügung über den so genannten ‚Frauenblock‘ dar. Dort wurden medizinische Experimente an weiblichen Häftlingen durchgeführt. In Frankfurt fanden keine Befragungen zu diesem Thema statt, weil sie keinen der Angeklagten betrafen. Obwohl die Befragung fiktiv ist, ist die Szene authentisch im Hinblick auf die Lagersituation, da sich die Aussagen der Zeuginnen auf Berichte von Überlebenden stützen.“ (ebda., S. 253)

Weiss hat Hinweise auf nationale oder ethnische Zugehörigkeiten oder auf historische Orte weggelassen. Meyer sieht darin eine „Universalisierung“ (ebda., S. 254), die den Text auf andere Orte und andere Zeiten übertragbar macht. Auf diese Weise wird die historische Distanz abgebaut, und es wird an die Rezipientinnen und Rezipienten appelliert, Vergleiche mit der Gegenwart herzustellen.

Die Täter dagegen werden in den Aufführungen namentlich genannt. Auch die Firmen, die die Häftlinge als Arbeitssklaven missbrauchten oder Geschäfte mit ihrer Ermordung machten, werden symbolisch auf die Anklagebank gesetzt. Die ästhetische Konzeption ist einfach, was die eingesetzten theatralischen Mittel, die Konstellation der handelnden Personen und den szenischen Aufbau betrifft. Weiss stellt seinem Oratorium eine „Anmerkung“ voran:

„Bei der Aufführung des Dramas soll nicht der Versuch unternommen werden, den Gerichtshof, vor dem die Verhandlungen über das Lager geführt wurden, zu rekonstruieren. Eine solche Rekonstruktion erscheint dem Schreiber des Dramas ebenso unmöglich wie es die Darstellung des Lagers auf der Bühne wäre. Hunderte von Zeugen reden vor dem Gericht. Auf der Bühne kann nur ein Konzentrat der Aussagen übrig bleiben“ (Weiss 2005, S. 9).

Seinen (und damit auch den uns empfohlenen) Bezug zu den Angeklagten und Zeuginnen wie Zeugen notiert er während des Schreibens, nach einem Besuch im Prozess:

„Ich sah einige vor ihren Peinigern stehen, Namenlose auf beiden Seiten, nur Übriggebliebene…Sie gehören nur uns an, sie gehörten zu keiner Hölle, zu keinem Paradies. Sie waren aufgewachsen mit uns, und was sie getan hatten, was ihnen widerfahren war, gehörte zu uns“. (Peter Weiss, zitiert nach Söllner 1988, S. 163)[7]

2. Wie kann „Die Ermittlung“ heute für die historisch-politische Bildung eingesetzt werden?

Vorbereitende Lektüre: „Meine Ortschaft“

In der Vorbereitung von Projekten sind immer die Annahmen über die tatsächlichen Interessen, Kompetenzen und Bewusstseinslagen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu reflektieren. Für mein Projekt kann davon ausgegangen werden, dass ein großer Teil der Anwesenden jeweils schon einmal eine Gedenkstätte besucht hat. Ich setze also eine gewisse Vorstellung über die Organisation und Funktion von Konzentrations- und Vernichtungslagern voraus. Als Einstieg (ggf. der Präsentation des Stückes via Film vorgeschaltet) kann als Lektüre ein kurzer Text von Peter Weiss über seinen ersten Besuch in Auschwitz dienen: „Meine Ortschaft“. In ihm reflektiert der Autor seinen Besuch, der zeitgleich mit dem der Richter und Staatsanwälte des Frankfurter Prozesses stattfand.

Der 12-seitige Text von 1965[8] ist eine unverschlüsselte Aussage über den Autor, ein Gang durch die konkreten Schrecken des Lagers, eine Reflexion darauf, dass der Besucher nur durchläuft, aber nichts erleidet, und schließlich eine Frage nach der Gegenwart des Schreckens.

“Nur diese eine Ortschaft, von der ich seit langem wusste, doch die ich erst spät sah, liegt gänzlich für sich. Es ist eine Ortschaft, für die ich bestimmt war und der ich entkam. Ich habe selbst nichts in dieser Ortschaft erfahren. Ich habe keine andere Beziehung zu ihr, als daß mein Name auf den Listen derer stand, die dorthin für immer übersiedelt werden sollten. Zwanzig Jahre danach habe ich diese Ortschaft gesehen. Sie ist unveränderlich. …

Dort steht ein Galgen. …Ein Bretterkasten, mit nach innen herabfallender Luke, darüber der Pfahl mit dem Querbalken. Ein Schild teilt mit, daß hier der Kommandant des Lagers gehängt wurde. Als er auf dem Kasten stand, die Schlinge um den Hals, sah er hinter der doppelten Stachel-10 Drahtumzäunung, die Hauptstraße des Lagers vor sich, mit den Pappeln zu den Seiten. …

Hier die Treppe, die hinab führt zu den Bunkern. …..Der Mittelgang, und rechts und links die Seitengänge mit Zellen, etwa drei mal zweieinhalb Meter groß, mit einem Kübel in einem Holzkasten und einem winzigen Fenster. Manche auch ohne Fenster, nur mit einem Luftloch oben in der Ecke. …

Hinter dem Scheunentor, an der Weiche, teilt sich das Gleis nach rechts und-links. Gras wächst zwischen den Schwellen…. Nach rechts kamen die Männer, die noch eine Weile leben durften, nach links die 25 Frauen, die zur Arbeit fähig befunden wurden, geradeaus den Weg zogen die Alten, Kranken und Kinder, den beiden rauchenden Schloten entgegen.

Und diese Worte, diese Erkenntnisse, sagen nichts, erklären nichts. …

Doch nach einer Weile tritt auch hier das Schweigen und die Erstarrung ein. Ein Lebender ist gekommen und vor diesem Lebenden verschließt sich, was hier geschah. Der Lebende, der hierherkommt, aus einer andern Welt, besitzt nichts als seine Kenntnisse von Ziffern, von niedergeschriebenen Berichten, von Zeugenaussagen, sie sind Teil seines Lebens, er trägt daran, doch fassen kann er nur, was ihm selbst widerfährt. Nur wenn er selbst von seinem Tisch gestoßen und gefesselt wird, wenn er getreten und gepeitscht wird, weiß er, wie dies ist. …

Jetzt steht er nur in einer untergegangenen Welt. Hier kann er nichts mehr tun. Eine Weile herrscht die äußerste Stille. Dann weiß er, es ist noch nicht zuende.” (Weiss 2016, S. 224 ff.)

Schon an diesen Text lassen sich im Stil einer klassischen Textinterpretation folgende Fragen beantworten:

  • Worauf richtet sich der Blick von Peter Weiss?
  • Was muss man schon wissen, bevor man es sehen kann?
  • Wie beschreibt der Autor die Möglichkeit des Einfühlungsvermögens, der Empathie angesichts des Schreckens?
  • Was kann er mit dem Schlusssatz gemeint haben: „Es ist noch nicht zuende”?

Wie stellt Peter Weiss das ‚nicht Darstellbare‘ dar?

Die folgenden Überlegungen verstehe ich als notwendiges Hintergrundwissen zum Stück, das die Lehrenden sich vor der Durchführung des Projektes angeeignet haben sollten.

Wie kann die „untergegangene Welt“ ­ ich benutze hier den irritierenden Terminus von Weiss noch einmal – angemessen dargestellt werden? Und was ist hier überhaupt angemessen? Meyer verweist auf zwei Gefahren in der Haltung und Herangehensweise von Künstlerinnen und Künstlern (mit Bezug auf Irving Howe):

„einerseits der voyeuristische Sadomasochismus und andererseits die literarische Mimesis, die den Schrecken mildert oder sogar mit ihm versöhnt.“  (a.a.O., S. 251).

Das Dilemma bei der Entscheidung über das, was zur Darstellung kommen soll, formuliert sie so:

“Versucht man, die Todesmaschinerie darzustellen, besteht die Gefahr, in der Darstellung die Entmenschlichung und Verdinglichung der Opfer zu wiederholen. Stellt man ein Einzelschicksal dar, setzt man sich dem Vorwurf der Verharmlosung aus.“ (a.a.O., S. 251).

Peter Weiss kann den indirekten Zugang über die Darstellung des Prozesses nutzen. Und in gewissem Sinne ist in diesem Gerichtssaal die Vergangenheit weder direkt präsent noch vergangen. Denn Täter und Opfer, also Angeklagte und überlebende Zeuginnen und Zeugen (unter den Zeugen sind auch zwei der Verteidigung) treten ja in Frankfurt tatsächlich auf und sprechen. Aber wiederum ist daran zu erinnern: Auf der Bühne sprechen sie ‚literarisch‘. Meyer beschreibt das Verfahren von Weiss:

„Hunderte von Zeugenaussagen werden im Text von Weiss verdichtet und auf neun Zeugen verteilt und konzentriert. Der Stil der Aussagen ist vereinheitlicht. Dabei gehen individuelle Merkmale des Sprechens wie ausländische Akzente· – in der Mehrzahl polnische -, Sprachduktus und Stockungen im Redefluss etwa durch Weinen oder Schweigen, verloren. Durch die stilistische Homogenisierung wird den Zeugenaussagen aber auch eine Autorität überpersönlicher Zeugenschaft verliehen. Tatsächlich vermitteln die Zeugen die Realität des Lagers, im Prozess ebenso wie im Text von Weiss.“ (a.a.O., S. 253)

Deshalb liegt eine indirekte, nicht ‚unvermittelte‘ Darstellung nahe. Nicht Auschwitz kommt auf die Bühne, sondern ein Gerichtsprozess über Auschwitz

Die Struktur eines Gerichtsprozesses legt eine Täter-Opfer-Polarisierung nahe.[9] Im Stück gipfelt die Konturierung in der wiederholten Regieanweisung „Die Angeklagten lachen“. Im Kontrast dazu steht das viermalige „die Zeugin schweigt“ im „Gesang von der Möglichkeit des Überlebens“ als einzige Regieanweisung für die Opfer. Das Leiden der Opfer steht der Skrupellosigkeit der Täter gegenüber.

Das Gericht untersucht das Handeln der Angeklagten. Der tägliche Kampf der Menschen, die ihnen ausgeliefert waren, – präsent in den Aussagen der Zeuginnen und Zeugen, war im Prozess kein Thema. Dieser Kampf führte oft zur ‚Entmenschlichung‘ der Opfer. Wer überleben wollte, musste seine bürgerlich-zivilen und humanen Werte verkehren. Diesen Kampf fasst Weiss in diese Sequenz:

» Überleben konnte nur der Listige
der sich jeden Tag
mit nie erlahmender Aufmerksamkeit
seinen Fußbreit Boden eroberte
Die Unfähigen
die Trägen im Geiste
die Milden
die Verstörten und Unpraktischen
die Trauernden und die,
die sich selbst bedauerten
wurden zertreten« (Weiss 2005, S. 42).

Der Autor lässt hier die Bergpredigt anklingen. Im ‚Himmelreich‘ wird das den Schwachen und Selbstlosen zugefügte Unrecht wieder gutgemacht. Diese Hoffnung wird im Lager zerstört. Seine Weltanschauung verbietet Peter Weiss jedoch auch ein Verharren im aussichtslosen Entsetzen. „Aber trotzdem müsste die Möglichkeit zur Besserung, zur Lösung am Ende aufklingen“ notierte Weiss bei der Arbeit am Stück (zitiert nach Söllner, 1988, S. 163) Mit dieser Weltanschauung (oder: ‚Ideologie‘) hängt auch eine wesentliche Kontroverse um die Politik des Stückes zusammen.

Die Kontroversen um das Stück als didaktische Fragen

In den damaligen Feuilletons wurde darauf hingewiesen, dass das Publikum angesichts des ‚Unmaßes des Schrecklichen‘ keine Möglichkeit mehr zur Kritik habe. „Das Publikum muß den Fakten parieren“ schreibt Joachim Kaiser in der Süddeutschen Zeitung. Er zieht den Schluss: „Auschwitz sprengt den Theaterrahmen, ist unter ästhetischen Bühnenvoraussetzungen schlechthin nicht konsumierbar.“ Andrerseits seien für „uns Deutsche Vorführungen wie diese bitter nötig.“ (SZ, 4/5. September 1965, zitiert nach Meyer 2005, S. 266). Damit ist die Bezogenheit der westdeutschen Gesellschaft auf die NS-Geschichte angesprochen. Weiss betonte die Beteiligung der Industrie an Auschwitz als letzte Konsequenz des Systems kapitalistischer Ausbeutung, das in der Bundesrepublik fortwirke, die auch in der personellen Kontinuität der NS-Gesellschaft stehe. Der Autor sagt dazu selbst:

» Das Stück entbehrt nicht der aktuellen Sprengkraft. Ein Großteil davon behandelt die Rolle der deutschen Großindustrie bei der Judenausrottung. Ich will den Kapitalismus brandmarken, der sich sogar als Kundschaft für Gaskammern hergibt« (Peter Weiss, zitiert nach Meyer 2005, S. 266).

Mit seinem derart vereinfachten Antifaschismus beteiligte sich der Autor an der Kampagne der DDR gegen die westdeutsche Eliten-Kontinuität. Der besondere Charakter des Nationalsozialismus als gegen die Juden gerichtetes Verbrechenssystem werde ausgeblendet: James E. Young beschuldigt Peter Weiss sogar, mit seinem Drama symbolisch die Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten fortzuführen:

»So stellt man zum Beispiel fest, daß sein Dokumentarstück, wo nahezu die Hälfte der vier Millionen Opfer einzig und allein ihrer jüdischen Herkunft wegen ermordet wurde, genauso judenrein [im Original deutsch – d. Ü.] ist wie der größte Teil Europas nach dem Holocaust« (James E. Young, zitiert nach Meyer, S. 123).

Analog zu seinem politisch-ökonomischen Vorverständnis manipuliere Weiss die Fakten. Die einzige im Stück namentlich bezeichnete Gruppe seien die sowjetischen Kriegsgefangenen (vgl. Meyer, S.125).

Christoph Weiss hat genauer hingeschaut und die Bearbeitungen der verschiedenen Fassungen untersucht (Meyers Darstellung 2005, S. 268 f.). Zwar gebe es eine Tendenz zur „politischen Verschärfung“ (ebda, S. 264) durch die Nennung der an den Verbrechen beteiligten Firmen. Gleichzeitig fügte der Autor auch andere Verweise auf die Herkunft der Opfer hinzu wie etwa zwei Verweise auf die jüdischen Opfer, den Namen »Sarah« sowie „6 Millionen/ aus rassischen Gründen Getöteten“.

Ein mögliches Fazit (mit Verweis auf heutige identitätspolitische Debatten): Die beiden strittigen Ebenen, die Konkretion (Jüdinnen und Juden) und die Verallgemeinerung (Menschen), das Partikulare und das Universelle, lassen sich nicht gegeneinander ausspielen. Stattdessen sollte der jeweilige Sinn bedacht werden, denn:

„Man könnte auch sagen, dass Peter Weiss das allgemein Menschliche der Opfer betont, auch um die nationalistischen und rassistischen Stigmatisierungen nicht zu wiederholen.“ (vgl. Meyer, ebda., S. 271)

„Peter Weiss und die Deutschen“ (mit Alfons Söllner)

Ich möchte noch kurz die Interpretation des Politikwissenschaftlers Alfons Söllner vorstellen. Er hat sie 1988 unter dem Titel „Peter Weiss und die Deutschen — Die Entstehung einer politischen Ästhetik wider die Verdrängung“ vorgelegt. Söllner arbeitet den Bezug der „Ermittlung“ zur politischen Kultur und zur damaligen sozialpsychologischen Verfasstheit der Bundesrepublik heraus. Sein normativer Ausgangspunkt: Die Deutschen sollen zum Erwachen und zur Besinnung auf ihre Vergangenheit motiviert werden, sie sollen tabuisierte Probleme anpacken[10]. Die NS-Strafprozesse können dabei nur ein Anfang sein. Söllners These ist, dass „Die Ermittlung“ auch eine Überwindung der Begrenztheit von strafrechtlichen Verfahren intendiert. (Söllner 1988, S. 173 f.) Er will einen Weg beschreiben, der über die juristische ‚Vergangenheitsbewältigung‘ hinausweist. Deren Mängel lägen zum einen in der Orientierung an einem individualistischen Strafrecht, das das kollektive Handeln im System nicht in den Blick nimmt. Der Schuldspruch und Strafvollzug sei dann zwangsläufig eine Rehabilitierung der Täter und gleichzeitig eine Legitimation des rechtsprechenden Systems. Die ehemaligen Täter koste er nur die Mühe des Ableugnens. Zudem sei die Diskrepanz zwischen dem Ausmaß des Verbrechens und dem Strafmaß von vornherein sehr hoch. Auch das mit dem Prozess verbundene Wahrheits- und Gerechtigkeitsversprechen täusche: eine wahrheitsgetreue Rekonstruktion der zur Beurteilung stehenden Realität mit juristischen Mitteln sei überhaupt nicht möglich. Die Rekonstruktion sei erst noch zu leisten.

Ein „Erinnerungskampf“ (Söllner) habe sich gegen eine dreifache Verleugnung zu behaupten:

„gegen eine vergangene Vernichtungsmaschinerie, die mit ihren Opfern vor allem auch die möglichen Zeugen ausrotten wollte; gegen die hartnäckigen Ableugnungsstrategien der Angeklagten in der Gegenwart des Prozesses und am wichtigsten: gegen eine Kontinuität von kollektiven Strukturen teils sozialer, teils mentaler Art, die fortgesetzt auf die Entwirklichung der Opfer und auf die Rehabilitierung der Täter hinarbeite.“ (ebda., S. 175)

Ich möchte diese Interpretation so stehen lassen. Ich bezweifle zwar nicht, dass sie dem Stück gerecht wird; aber zu diskutieren wäre, inwieweit Söllner die Entwicklungen der 1970er und 80er Jahre noch zu sehr unter ‚Verdrängung‘ rubriziert und welche Elemente Söllners in eine Didaktik zu übernehmen wären. Überzeugend scheint mir jedoch ein letzter Punkt, mit dem ich an die Stichworte ‚dokumentarisch‘ und ‚objektiv‘ anschließen möchte:

„Die Gegenüberstellung der Täter- und der Opferperspektive ist nicht im Medium einer dritten, einer neutralen Perspektive aufgehoben. Das Gegenteil ist der Fall: die Zeugen werden insofern radikal beim Wort genommen, als sie alleine es sind, die zuverlässige und detaillierte Informationen über das Lagerleben abgeben können und wollen. Die Gleichung Zeugen gleich Opfer ist gleich Wahrheit ist die entscheidende Modellierung der Wirklichkeit in der ‚Ermittlung‘ und insofern auch die grundlegende politische Entscheidung, zu der ihr Autor gelangt ist. …Es ist wichtig. die Differenz herauszustellen, die diesen Anspruch auf Objektivität vom üblichen Gebrauch des Wortes unterscheidet; nicht wissenschaftliche Objektivität ist hier gemeint, sondern die mit ästhetischen Mitteln hergestellte Präsentation.“ (ebda., S. 181)

Auf der Basis dieses differenzierten Objektivitätsverständnisses lässt sich die dreifache Unterscheidung von geschehenen Verbrechen, Prozess-Realität und der Objektivität von Schuld, die das Stück ermittelt, verstehen lernen. Söllner zeigt: Unbestritten teilt Weiss das Interesse an Fragen von Schuld und Gerechtigkeit, jedoch nicht in einem engen strafrechtlichen Sinne. Damit komme ich zu meinem zweiten Kapitel:

3. Schuld und Gerechtigkeit als didaktische Kategorien

Ich möchte im zweiten Teil meines Vortrages Schuld und Gerechtigkeit[11] als didaktisch fruchtbare Kategorien für die politische Bildung präsentieren. Diese beiden Begriffe sind Kategorien im Sinne einer Grundbegrifflichkeit von Politik, Pädagogik und Philosophie. Sie sind aber auch alltagsbasierte, lebensweltliche Kategorien im Sinne der Frage: ist das gerecht? Wer ist schuld? Was folgt aus Schuldsprüchen? Zudem sind diese beiden Kategorien die juristischen Grundfragen in Strafprozessen.

Generell gehört die Feststellung von krimineller Schuld und die Verurteilung zu einer gerechten Strafe, also die juristische Ahndung, zu den Erfordernissen von Staaten und Gesellschaften. Sie werden im Falle von politisch-krimineller Schuld als Teil der politisch-rechtlichen ‚Vergangenheitsbewältigung‘ verstanden. Für die Politikdidaktik heißt das: Schuld und Strafgerechtigkeit sind grundlegende Kategorien für Handlungsmotive der Politik. Hier in diesem Zusammenhang wird nur eine bestimmte Dimension der Gerechtigkeit, die Strafgerechtigkeit, relevant sein. Winfried Hassemer stellt in seinem Plädoyer „Warum Strafe sein muss“ fest: „Unsere Gerechtigkeitserwartungen sind auf dem Feld des Strafrechts tief verwurzelt und ziemlich stabil“ (Hassemer 2009, S. 28)[12]. Daran knüpft mein Ansatz an, denn auch Jugendliche bilden ihre alltagsweltlichen Begriffe von Schuld und gerechter Strafe im Rahmen der gesamtgesellschaftlichen Kommunikation aus. Worauf diese Erwartungen sich nicht nur ‘bei uns‘, sondern gerade auch weltweit richten, fasst Otfried Höffe zusammen:

„Interkulturell anerkannt sind auch Grundsätze der Verfahrensgerechtigkeit, ferner der Gedanke der Wechselseitigkeit oder Reziprozität, verbunden mit der Goldenen Regel (,Was du nicht willst, daß man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu‘) und mit jener Gleichwertigkeit im Nehmen und Geben (‚Tauschgerechtigkeit‘), die keineswegs nur für Wirtschaftsbeziehungen gilt. Ebenfalls zum gemeinsamen Gerechtigkeitserbe gehört der Gedanke einer ausgleichenden (‘korrektiven‘) Gerechtigkeit“ (Höffe 2010, S. 11/12).

Auf dieser universellen Grundlage lässt sich meiner Erfahrung nach auch der Parole vom ‚Schuldkult‘ offensiv begegnen.

Der Parole vom ‚Schuldkult‘ offensiv begegnen

Es ist m. E. sinnvoll, das mit diesem Stichwort der AfD aufgerufene oder aufgebaute Unbehagen direkt aufzugreifen, anstatt als Rumoren und politische Parole im Raum stehen zu lassen. Das habe ich gerade bei Soldaten erlebt. Ein gut begründeter und grundlegender Umgang mit dem Problem basiert auf der geläufigen Unterscheidung von Schuld und Verantwortung. Letztere haben wir als Angehörige der historisch gewachsenen Gesellschaft dieses Landes, dieses Nationalstaates Deutschland, zu übernehmen.

Der vielfach formulierte und logisch unwiderlegbare Einwand, niemand der Nachgeborenen könne garantieren, dass er sich nicht auch so verhalten hätte wie manch einer der Täter oder Täterinnen, rechtfertigt nicht die damit oft verbundene Nivellierung von Schuld und Verantwortung.

‚Wie hätte ich mich verhalten‘— dazu ist viel nachgedacht und geschrieben worden, eine der präzisesten Stimmen dazu ist die von Jan-Philipp Reemtsma: Er macht — unter diesem Titel (Reemtsma 2001) — geltend, dass die eigene Schwäche (formuliert in dem Satz: ‚Ich kann nicht garantieren, nicht auch so gehandelt zu haben‘) ja keine allgemeine Handlungsmaxime sein könne oder werden solle. Von jedem Menschen kann erwartet werden, dass er sich zumindest vornimmt, Situationen zu verhindern oder zu vermeiden, in denen er anderen Menschen Leid zufügt. Auf diesem Weg kann auch dem missmutigen Motto, das da oft lautet: ‚Was haben wir denn damit zu tun?‘ begegnet werden.[13]

Aber wir sind im Stück von Peter Weiss, in dem die Schuldfrage ebenfalls präsent ist, wenn auch nicht im engen strafrechtlichen Sinne. Sie ist es als politische Zuweisung unter der antifaschistischen Perspektive. Aber der Autor Weiss ist nicht nur der sozialistische Gegner von Kapital und Bürgertum, nicht nur der politisch Verfolgte und das prädestinierte Opfer. Er reflektiert eine weitere mögliche Rolle im Lagersystem: Meyer nimmt als Hinweis die Stelle im „Gesang vom Phenol“, wo von den Funktionshäftlingen Schwarz und Weiss (!) die Rede ist, die die Phenolbüchsen in die Gaskammern kippen müssen.

„Der Autor Peter Weiss war sich bewusst, dass ihn seine damals allzu deutsche, nämlich autoritäre Erziehung, anfällig für die nationalsozialistischen Machtfantasien gemacht hätte“.  (Meyer 2005, S. 272)

Damit soll sicher nicht die Austauschbarkeit von Täter und Opfer unterstellt werden. Allerdings bleibt es den Opfern nicht erspart, sich im Lager manchmal den Tätern annähern zu müssen, um zu überleben (siehe oben das ‚Bergpredigt-Zitat‘ aus dem Stück).

Wie werden die angeklagten Täter von Weiss charakterisiert? Die Frage ist nach den vielen Beiträgen zur ‚Täterforschung‘ — wie werden aus ganz normalen Menschen Massenmörder? — naheliegend. Mit Blick auf die Schuld der Angeklagten arbeitet er ihre Entschuldigungen heraus und zeigt ihre Unverschämtheiten und ihre mangelnde Empathie. Die Angeklagten sind weder Marionetten des Systems oder Rädchen im Getriebe noch reine Bürokraten oder Exzess-Täter.

Schuld als personal zurechenbare Verantwortung für strafbare Handlungen

Ich will hier noch kurz auf den didaktischen Umgang mit der Kategorie ‚Schuld‘ eingehen: Sie beinhaltet mehr als die gerichtliche Feststellung; das ist ja seit der vierfachen Unterscheidung von Karl Jaspers aus dem Jahr 1946 geläufig. Die Klärung der Schuldfrage bei Makroverbrechen geht auch über die Frage nach der Verletzung gesellschaftlicher Normen und nationaler Strafgesetze hinaus; zu klären ist der Charakter der Handlungen und Tatkomplexe selbst – jenseits der Feststellung von ‘Mord‘ oder ‘Beihilfe zum Mord‘.

Der normative Rahmen kann so formuliert werden[14]: Bestrafung setzt die Schuldfeststellung voraus. Schuld ist Vorwerfbarkeit. Mit der Tatsachenfeststellung und dem Urteil ‚schuldig‘ wird dem Täter vorgeworfen, dass er sich nicht rechtmäßig verhalten hat und dass er sich für das Unrecht frei entschieden hat, obwohl er sich rechtmäßig verhalten und sich für das Einhalten des Rechts hätte entscheiden können. Die inzwischen verbreitete Frage, ‚ob es einen freien Willen gibt‘, will ich hier mit Bezug auf die folgende Annahme des Juristen Carl-Friedrich Stuckenberg beantworten:

„Die Selbstwahrnehmung des Menschen als frei und bewußt agierendes Wesen ist unhintergehbar. …Der Mensch kann aus logischen Gründen sein eigenes Verhalten nicht vorhersagen (epistemischer Indeterminismus) und ist daher praktisch frei. Die hinzutretende ‘Illusion‘ eines bewußten Willens als Instanz der Handlungssteuerung ist eine psychologische Realität, ein notwendiger Systemzustand, folglich unaufgebbar. Ob der menschliche Wille im starken Sinne frei ist, ist für strafrechtliche Schuld theoretisch irrelevant“ (Stuckenberg 2009, S. 21)

Für das Strafrecht setzt der Rechtsphilosoph Arthur Kaufmann verschiedene Zurechnungsebenen von Freiheit voraus, die zur Beschreibung von Handlungsfreiheit bei NS-Tätern nützlich sind: Voraussetzungen einer Schuld-Zurechnung sind “generelle Freiheit”, „soziale Freiheit“ und “individuelle Freiheit“. (Kaufmann 1983, S. 325) Diese Freiheitslevels werden durch die verbreitete Metapher ‚Rädchen im Getriebe‘ verunklart. Das Bild wird auch regelmäßig als Entschuldigung für Tätigkeiten in Konzentrations- und Vernichtungslagern gebraucht. Bekanntlich ist die zentrale Frage dabei, ob die bloße Zugehörigkeit zu den Organisationsstrukturen eines Vernichtungslagers schon ‚Beihilfe zum Mord‘ ist; und wie die untergeordnete, ‚indirekte‘ Beteiligung am Gesamtgeschehen, am Verbrechenskomplex, zu bewerten ist. Peter Weiss entfaltete in der ‚Ermittlung‘ schon über die Argumentation der Ankläger und des Zeugen drei die ‚Gesamtkomplex-Argumentation‘. Und bekanntlich folgten die Richter in Frankfurt dieser Logik nicht.

Inzwischen gibt es in Deutschland den Tatbestand der ‚Beihilfe zum Massenmord‘, wie er im Urteil gegen John Demjanuk im Jahr 2011 formuliert wurde:

“Die Vernichtungslager dienten nur dem einzigen Zweck der massenhaften Ermordung der jüdischen Bevölkerung Europas. Damit war jede Tätigkeit aller übrigen Wachleute im Lager eine Förderung des Hauptzwecks des Vernichtungslagers.“ (zitiert nach Jasch/Kaiser 2017, S. 191 f.)

Ich will diesen Wandel etwas ausführen, weil er auf eine auch im Bildungsbereich regelmäßig zu bearbeitende Frage verweist:

‚Warum werden heute noch diese alten Männer angeklagt?‘

John Demjanuk, Oskar Gröning und Bruno Dey wären 1965 in Frankfurt nicht verurteilt worden. Zukunftsweisend war damals schon die Kritik von Fritz Bauer, die ich hier in der Zusammenfassung des Juristen Hans-Christian Jasch zitiere:

„Bauer erfasste den spezifischen Charakter der auf gestufter Arbeitsteiligkeit beruhenden ‚Endlösung der Judenfrage‘  …Es waren diese modernen arbeitsteilig , industriell und bürokratisch organisierten Strukturen, die den einzelnen Beteiligten die Möglichkeit einräumten , sich als nur kleines , unbedeutendes Rädchen eines großen Getriebes zu sehen.  ‚Auch die Tätigkeit eines jeden Mitglieds eines Vernichtungslagers stellt vom Eintritt in das Lager, womit in aller Regel sofort die Kenntnis von dessen Aufgabe, Tötungsmaschinerie zu sein, verbunden war, bis zu seinem Ausscheiden eine natürliche Handlung dar, was immer er physisch zur Verwaltung des Lagers und damit zur › Endlösung ‹ beigetragen hat. Er hat fortlaufend, ununterbrochen mitgewirkt.“ (Jasch/Kaiser 2017, S.151)

Bruno Dey wurde 2020 zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt, Bruno Gröning zu vier Jahren Freiheitsstrafe; er starb 2018, ohne die Strafe angetreten zu haben. John Demjanuk wurde 2011 zu fünf Jahren Haft verurteilt. Weil beim staatenlosen Demjanjuk keine Fluchtgefahr bestehe, setzte der Richter den Haftbefehl außer Vollzug. Zehn Monate später starb Demjanjuk, noch bevor das Urteil rechtskräftig geworden war.

Ich möchte zum Abschluss wiederum eine Textanalyse ins Gespräch bringen, die ich zum Beispiel[15] im Rahmen einer Gruppenarbeit bei einem dreistündigen Projekt im Memorium oder als Nacharbeit in der Gruppe/Klasse für geeignet halte:
„In Demut richten – Der Preis der späten Gerechtigkeit“ (Alexander Haneke, Leitartikel der FAZ vom 19.11.2018 zu Bruno Dey, in  Münster vor Gericht)

„Vor ein paar Jahren hat die deutsche Justiz angefangen, die letzten SS-Männer vor Gericht zu stellen, derer sie noch habhaft wird. Über Jahrzehnte hatte es geheißen, das Tun der einfachen Wachleute der Konzentrationslager sei nicht strafbar, wenn ihnen keine eigenen Mordtaten nachzuweisen waren. Die Justiz ließ damals Milde walten, und sie hatte durchaus Gründe. War nicht das Unrecht dieser Männer verschwindend gering gegenüber dem der wirklichen Schlächter von Auschwitz? Hatten sie nicht auch gelitten, die besten Jahre ihres Lebens an diesen furchtbaren Orten zubringen zu müssen? Und waren sie nicht selbst Opfer der Umstände ihrer Zeit, in die sie nun einmal hineingeboren waren? Wer kann sich schon aus der sicheren Distanz von Jahrzehnten Demokratie und Rechtsstaat erlauben, über einen jungen Mann zu richten, der damals von der SS zum Dienst gezwungen worden war? Vor allem aber: Wo ist die Grenze? Ist es gerecht, dass ein Wachmann von Stutthof angeklagt wird, nicht aber Reichsbahner, die auch wussten, was sie taten, als sie Züge voller Menschen in die Vernichtungslager fuhren? Und die Polizisten, die die Menschen zu den Sammelstellen für die Deportationszüge brachten? Und die, die zusahen? Auschwitz endete nicht an seinen Toren.

Vor Jahrzehnten, als es eigentlich Zeit für diese Prozesse gewesen wäre, hat die Justiz sie nicht geführt, vielleicht auch, weil sie zu weit geführt hätten, nämlich in die Mitte der Gesellschaft. Damals waren das Land und seine Justiz dazu nicht bereit. Möglicherweise wären die Kosten zu hoch gewesen. Hunderttausende hätten vor Gericht gestellt werden können. Friede ist so schwer zu finden. Heute tun die Prozesse niemandem mehr weh außer jenen Greisen, die noch da sind, als wären sie aus ihrer Zeit gefallen. Die Justiz kann sich ohne große Schmerzen rehabilitieren. Heute fällt es leicht, mit dem Finger auf den SS-Mann in Münster zu zeigen und sich selbst auf der richtigen Seite der Geschichte zu wissen. Es kostet nichts mehr.

Dennoch ist es richtig, diese Prozesse zu führen. Nicht nur für die Überlebenden, die Jahrzehnte mitansehen mussten, wie deutsche Staatsanwälte und Richter teils zynische Argumentationskonstrukte ersannen, um ihre Milde gegenüber den Tätern juristisch zu begründen. Für die wenigen noch Lebenden derer, die die Hölle der Konzentrationslager durchlitten haben, ist es eine späte Genugtuung, dass sich nun noch einmal deutsche Gerichte ihrer Schicksale annehmen. Die Überlebenden betonen stets, dass es nicht um Strafe geht, sondern um Urteile.

Es ist die Aufgabe der Justiz, Recht zu sprechen. Und das hat sie zum Vernichtungssystem der Konzentrationslager noch nicht ausreichend getan. Denn jeder, der eine Mordtat willentlich fördert, begeht Beihilfe. Jeder Wachmann der Konzentrationslager wusste, was drinnen geschah. Die Mordmaschinerie funktionierte nur deshalb, weil all die kleinen Zahnrädchen ihren Dienst taten. Wären die Wachmänner, die Lagerverwalter nicht gewesen, hätte es (womöglich) keine Vernichtungslager geben können. Dass nun gebrechliche Greise vor den Richter gezerrt werden, ist der Preis dafür, dass so lange mit der Gerechtigkeit gewartet worden ist. Den späten Prozessen wohnt die Gefahr inne, dass sich der Fokus immer mehr auf die Konzentrationslager reduziert und das Böse, dem man hier zum letzten Mal ins Auge zu blicken glaubt, gleichsam in den Lagern eingeschlossen wird, als hätte es all die Mitwirkenden draußen nicht gegeben.

Doch in dem Blick auf die damals jüngsten Täter liegt auch eine Chance. Denn an ihnen ist zu sehen, dass das Menschheitsverbrechen der Vernichtungslager nicht nur von sadistischen Mördern begangen wurde, die ihren aufgestauten Hass ausleben konnten. Es waren zum großen Teil „normale“ Menschen, viele junge dabei, die in einer anderen Zeit vielleicht nie etwas Böses getan hätten. Das Schicksal hat sie in die Vernichtungslager gebracht, wo ihnen der Mut fehlte, nein zu sagen. Es wäre fraglos großer Mut erforderlich gewesen. So wurden sie zu Tätern. Darüber muss gerichtet werden, nicht über die Menschen, aber über ihre Taten, auch heute noch. Es sollte in größter Demut geschehen, da es nicht der eigene Mut war, der herausgefordert wurde.“

Mit dieser sensiblen, klugen und aktuellen Argumentation möchte ich meine Empfehlung zur Arbeit mit dem Stück „Die Ermittlung“ in der politischen Bildung schließen.

 

 

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[1] Vortrag in die Werkstatt Kritische Bildungstheorie im Ev. Bildungszentrum Bad Alexandersbad am 15.September 2021
[2] Zusammen mit Doris Katheder vom Caritas-Pirckheimer-Haus habe ich vor 10 Jahren ein Seminarkonzept      für Schulklassen zum Frankfurter Auschwitzprozess entwickelt und durchgeführt.
[3] Peter Weiss: Die Ermittlung Text und Kommentar, Suhrkamp Basisbibliothek, mit einem Kommentar von Marita Meyer, Frankfurt 2005. Der Kommentar enthält eine Zeittafel, ausführliche Wort und Sacherläuterungen und den Text von Marita Meyer „Anamnese und Mnemosyne: Arbeit an der Wieder-Erinnerung und künstlerischen Gestaltung“ (S. 249 – 273).
[4] Auch wenn die strafrechtliche Aufgabe als ‚Pensum‘ der Justiz bewältigt werden kann, ist damit nicht ‚die Vergangenheit bewältigt‘; „Es handelt sich um eine Vergangenheit, die man gar nicht bewältigen, sondern immer nur präsent halten konnte“ schreibt Söllner 1988, S. 183.
[5] Untertitel der „Ermittlung“: „Oratorium in elf Gesängen“: „Gesang von der Rampe, Gesang vom Lager, Gesang von der Schaukel, Gesang von der Möglichkeit des Überlebens, Gesang vom Ende der Lili Tofler, Gesang vom Unterscharführer Stark, Gesang von der Schwarzen Wand, Gesang vom Phenol, Gesang vom Bunkerblock, Gesang vom Zyklon B, Gesang von den Feueröfen“.
[6] Schon die Gattungsbezeichnung ‘Oratorium‘ weist darauf hin, dass es sich keineswegs um bloßes Dokumentartheater handelt. Das Stück ist ein literarisches Werk; es werden nicht einfach Gerichtsprotokolle verlesen, die es so auch nicht gab. Gleichzeitig aber ist die stilistische, rhetorische und gestalterische Bearbeitung des dokumentarischen Materials von großer Bedeutung. Neben seinen eigenen Prozessbesuchen stützte Weiss sich auf die Berichterstattung von Bernd Naumann, der für die Frankfurter Allgemeine Zeitung fortlaufend über den Prozess schrieb.
[7] Weiss unterstreicht mit dieser Formulierung auch, dass er nicht im christlichen Weltmodell wie Dante (Himmel, Fegefeuer, Hölle), sondern in radikaler Diesseitigkeit denkt und schreibt.
[8] „Meine Ortschaft“ ist ebenfalls in dem o.g. Band der Basisbibliothek enthalten (S. 223 – 236).
[9] Da sowohl unter den Angeklagten als auch unter den Zeugen ‚Funktionshäftlinge‘ waren, entspricht die Polarisierung nicht genau dem Angeklagte-Zeugen-Schema.
[10] Diese Interpretation, die ich hier im Anschluss an Söllner referiere, kann als die dominierende Sichtweise gelten, vermittelt durch die Rezeption von Fritz Bauers Kritik an den Defiziten des Auschwitzprozesses.
[11] Recht (als objektives System und als subjektives ‘Rechte haben‘) und Gerechtigkeit als politisches Ziel und Legitimationsbegriff sind Grundbegriffe der Fachwissenschaften, der Politikdidaktik und auch der Alltagswelt.
[12] Muss Strafe sein? Muss Schuld bestraft werden?  Die politische Bildung sollte eine Grundorientierung in den unterschiedlichen Straftheorien mitbringen, gerade wenn sie sich auf Menschenrechte und Menschenwürde als Normquellen und zu schützende Werte beruft. Die Politikdidaktik zu den NS-Prozessen muss zudem den Einwand berücksichtigen, dass Prävention und Resozialisierung bei einem entmachteten politisch-verbrecherischem System kein Strafzweck sein können, weil die Täter gesellschaftlich wieder integriert sind und nur unter den Bedingungen der Diktatur so handeln konnten. Die Frage des Strafzweckes und der Zurechnung bei Makroverbrechen wurde von Herbert Jäger im Jahr 1995 diskutiert. Für die Zeit nach der Entmachtung einer politisch-kriminellen Elite, dann meist in einem geänderten politischen System, ist zu vermuten, dass Abschreckung und das Schaffen von Normbewusstsein bei den Tätern im Vergleich zu den normalen Zielen der Generalprävention und Normstabilisierung wenig erfolgreich sind (Jäger 1995, 339/340).
[13] Einige wiederkehrende Fragen: Gibt es nicht wichtigere Themen oder aktuellere Staatsverbrechen und Völkermorde? Und ist das nicht ein Problem der Deutschen, mit dem Einwanderer nichts zu tun haben oder ein Problem einer bestimmten Generation, mit dem die junge Generation nichts zu tun hat?
[14] Sieh dazu ausführlicher: Böhm 2019
[15] Neben diesem Text sind weitere Aufgaben für AGs sinnvoll unter der Aufgabenstellung: Überlegen Sie, was die folgende Frage/These bedeuten soll. Schauen Sie ggf. bei Wikipedia zum Stichwort nach. Wägen sie ab. Nehmen sie Stellung:

  • Hatten die Menschen im KZ Menschenrechte?
  • Beurteilen Sie die Frage: Beihilfe von Einzeltätern oder Universum/Gesamtkomplex
  • Gibt es eine Inflation von Völkermord als Beschreibung von Menschheits-Verbrechen?
    (Singularitätsthese als Frage)
  • Soll die Leugnung des Holocaust-Leugnung weiterhin bestraft werden?

 

 

Literaturverzeichnis

Böhm, Otto (2019): Die Suche nach Schuld und Gerechtigkeit Eine politische Fachdidaktik des Internationalen Militärtribunals von Nürnberg. Erlangen: Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU).
Fechler, Bernd (Hg.) (2000): “Erziehung nach Auschwitz” in der multikulturellen Gesellschaft. Pädagogische und soziologische Annäherungen. Weinheim, München: Juventa-Verl. (Veröffentlichungen der Max-Traeger-Stiftung, Bd. 32).
Hassemer, Winfried (2009): Warum Strafe sein muss. Ein Plädoyer. Berlin: Ullstein.
Höffe, Otfried (2004): Gerechtigkeit. Eine philosophische Einführung. 2., durchges. Aufl., Orig.-Ausg. München: Beck (Beck’sche Reihe).
Jasch, Hans-Christian; Kaiser, Wolf (2017): Der Holocaust vor deutschen Gerichten. Amnestieren, Verdrängen, Bestrafen. Stuttgart, Reclam.
Jäger, Herbert (1982): Verbrechen unter totalitärer Herrschaft. Studien zur nationalsozialistischen Gewaltkriminalität, Frankfurt am Main/Suhrkamp.
Kaufmann, Arthur (1983): Schuld und Strafe. Studien zur Strafrechtsdogmatik. Köln: Heymanns (Schriftenreihe Annales Universitatis Saraviensis Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Abteilung, 22).
Meyer, Marita (2000): Eine Ermittlung. Fragen an Peter Weiss und an die Literatur des Holocaust. St. Ingbert: Röhrig.
Meyer, Marita (2005): Anamnese und Mnemosyne: Arbeit an der Wieder-Erinnerung und künstlerischen Gestaltung, in: Weiss, Peter (2005): Die Ermittlung (S. 249 – 273).
Naumann, Bernd; Renz, Werner (2013): Der Auschwitz-Prozess. Bericht über die Strafsache gegen Mulka u. a. vor dem Schwurgericht Frankfurt am Main 1963 – 1965. Aktualisierte Neuausg. Hamburg: CEP Europ. Verl.-Anst.
Reemtsma, Jan-Philipp (2001): ‚Wie hätte ich mich verhalten‘ und andere, nicht nur deutsche Fragen Reden und Aufsätze“, München, Beck-Verlag.
Söllner, Alfons (1988): Peter Weiss und die Deutschen. Die Entstehung einer politischen Ästhetik wider der Verdrängung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Stuckenberg, Carl-Friedrich (2007): Vorstudien zu Vorsatz und Irrtum im Völkerstrafrecht. Versuch einer Elementarlehre für eine übernationale Vorsatzdogmatik. Zugl.: Bonn, Univ., Habil., 2006. Berlin: De Gruyter Recht. Online verfügbar unter http://www.degruyter.com/doi/book/10.1515/9783110921953.
Weiss, Peter; Meyer, Marita (2005): Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen. 1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp BasisBibliothek, 65).

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