Sinn und Nutzen eines Individualbeschwerdeverfahrens zum Sozialpakt. Allgemeine Erfahrungen mit den VN-Vertragsorganen

18. Februar 2004 | Von | Kategorie: Soziale Menschenrechte

von Wolfgang S. Heinz (1),

Als eines der wenigen Kernabkommen des universellen Menschenrechtsschutzes sieht der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte – kurz: Sozialpakt – kein Individualbeschwerdeverfahren vor, das es einzelnen Personen oder Gruppen ermöglichen würde, gegen die Verletzung ihrer in dem Pakt verankerten Rechte vor einem Gremium der Vereinten Nationen Beschwerde einzulegen. Dr. Wolfgang Heinz, Mitarbeiter des Deutschen Instituts für Menschenrechte (DIMR), legt in dem nachstehend abgedruckten Vortrag den Sinn und Nutzen eines solchen Individualbeschwerdeverfahrens dar.

Der Vortrag wurde auf einem Parlamentarischen Abend gehalten, den das Forum Menschenrechte (in dem das Nürnberger Menschenrechtszentrum mitarbeitet) gemeinsam mit dem DIMR am 29. Januar 2004 in Berlin veranstaltete. Der Parlamentarische Abend fand in Vorbereitung der ersten Sitzung (Genf, 23. Februar bis 5. März 2004) der sog. Open Ended Working Group statt, die 2003 auf Beschluss der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen gebildet worden war, um über ein mögliches Fakultativprotokoll zum Sozialpakt zu beraten. Bei dem Parlamentarische Abend diskutierten Vertreter verschiedener Nichtregierungsorganisationen (NROs) und der deutschen Regierung über den Nutzen eines Individualbeschwerdeverfahrens zum Sozialpakt.

Einleitung

Im Mittelpunkt meines kurzen Beitrags steht die Frage, welchen Nutzen eine Individualbeschwerde zum VN-Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte – kurz: Sozialpakt – haben könnte. Mein Ausgangspunkt sind die sechs Kernabkommen des VN-Menschenrechtsschutzes, auf die ich vergleichend eingehen werde.

Im Menschenrechtsschutzsystem der Vereinten Nationen spricht man von sechs Kernabkommen – CERD, CESCR, CCPR, CEDAW, CAT, CRC, die alle von Deutschland ratifiziert wurden (2). Bei ihren sechs Expertenausschüssen, den sog. Vertragsorganen, sollen Staatenberichte je nach Abkommen alle vier bis fünf Jahren eingereicht werden, werden dort diskutiert und die Vertragsorgane formulieren dann Schlussfolgerungen, sog. concluding observations. Vier der sechs Verträge kennen Individualbeschwerden; die Ausnahmen sind CESCR und CRC, zwei ein Untersuchungsverfahren aus eigenem Ermessen, CAT und CEDAW. Bei CAT gab es Untersuchungen zu Peru, Türkei und Ägypten (Ägypten lehnte jedoch den Besuch von CAT ab). (Als siebenter Vertrag ist das 2003 in Kraft getretene Abkommen zum Schutz von Migrant/-innen und deren Familien zu nennen, dessen Expertenausschuss 2004 seine Arbeit aufnimmt).

Nun zum Sozialpakt: Er wurde von 148 Staaten ratifiziert; das sind mehr als Dreiviertel der VN-Mitgliedsstaaten. Die Verantwortung für die Überwachung der Einhaltung liegt bei dem 18köpfigen Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, der sich aus unabhängigen Experten zusammensetzt (Seine Mitglieder sind nicht weisungsgebunden). Deutsches Mitglied ist Prof. Dr. Eibe Riedel von der Universität Mannheim. Nach der Praxis des Sozialausschusses, die in seinen jährlichen Berichten an den VN-Wirtschafts- und Sozialrat (Economic and Social Council, ECOSOC) dokumentiert ist, können Nicht-Regierungs-Organisationen (NROs) relevante Informationen zu den Staatenberichten übermitteln.

Der Ausschuss tagt jährlich zweimal drei Wochen plus jeweils eine Woche pre-sessional meeting.

Er bemüht sich in der Praxis um einen konstruktiven Dialog mit den Vertragsstaaten zu ihren Staatenberichten.

Dem Ausschuss steht das Instrument der Staatenberichte (Art. 16, 17 Sozialpakt) zur Verfügung. Er hat bisher 15 so genannte Allgemeine Kommentare (General Comments) zur Auslegung der Normen im WSK-Pakt formuliert, Nr. 16 und 17 sind in Arbeit.

Ein eigenständiges Untersuchungsverfahren wie bei CAT und CEDAW gibt es nicht, ein Individualbeschwerdeverfahren wie bei weiteren vier Abkommen – die andere Ausnahme ist die Kinderrechtskonvention – noch nicht. Jedoch hat die VN-Menschenrechtskommission 2003 eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die die Option eines Individualbeschwerdeverfahrens prüfen soll.

Staatenberichte

Staatenberichte sind ohne Zweifel der zentrale Überprüfungsmechanismus des internationalen Menschenrechtsschutzsystems, da sie die Staaten kontinuierlich in die Pflicht nehmen, Rechenschaft über ihre Menschenrechtssituation und Maßnahmen zu ihrer Verbesserung abzulegen. Ihre Wirkung ist nicht zu unterschätzen. Der erste Staatenbericht soll beim Sozialpakt zwei Jahre nach der Ratifikation erfolgen, die nächsten im Abstand von fünf Jahren

Jedoch ist die Wirksamkeit von Staatenberichten auch begrenzt:

Es wird ein Dialog zwischen dem Vertragsorgan und dem betreffenden Staat über allgemeine Entwicklungen geführt, nicht über einzelne Fälle von Menschenrechtsverletzungen. Hinzu kommt, dass es sich um einen recht schwerfälligen Prozess handelt, in dem sich die Staaten mit ihrer Berichtspflicht häufig in Verzug befinden. 2002 fehlten 46 initial, 26 second, 8 third und 7 fourth periodic reports (s. CESC, Report on the 28th and 29th Sessions, 29 April-17 May 2002, 11-29 November 2002, in: ECOSOC, Official Records, 2003, Supplement No. 2, UN Doc. E/2003/22, Annex I).

Weiterhin wird ein Staatenbericht tendenziell eher wenig Eigenkritik enthalten. Hier ist die herausragende Bedeutung der sog. “Schattenberichte” von NROs zu erwähnen, welche das Vertragsorgan auf Missstände aufmerksam machen können.

Individualbeschwerde

Im Vergleich zu den anderen Abkommen spricht viel für die Einführung eines Individualbeschwerdeverfahrens, aber es müssen auch einige Bedenken ausgeräumt werden.

Vor allem stellt sich natürlich die Frage nach dem Mehrwert eines solchen Verfahrens. Gegen diesen Mehrwert könnte man verschiedene Einwände vorbringen.

Ein Kritikpunkt wäre, dass es in der Regel bereits ausreichend Rechtswege auf nationaler, regionaler, aber auch internationaler Ebene gibt, die dem Schutz wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte dienen; tatsächlich gibt es aber bei den WSK-Rechten deutlich weniger Klagemöglichkeiten als bei den bürgerlichen und politischen Rechten (hier ist nur kurz das Stichwort “Schnittmengen mit dem Zivilpakt” zu erwähnen, d.h. die Gefahr, dass dasselbe Menschenrechtsthema von verschiedenen Abkommen behandelt wird und daher unnötige Doppelarbeit verlangt wird, etwa zu einem Thema wie Diskriminierung). Hier gibt es bekanntlich eine Diskussion zur “Überlappung” von Menschenrechtsmechanismen in ihrer Arbeit, eine sicher zum Teil berechtigte Kritik (Vgl. hierzu detailliert: Sir Nigel Rodley, United Nations Human Rights Treaty and Special Procedures of the Commission on Human Rights-Complementarity or Competition?, in: Human Rights Quarterly 2003, 882-908). Ob man allerdings ausgerechnet das WSK-Beschwerdeverfahren von einer umfassenden Reform des gesamten Schutzsystems abhängig machen sollte, erscheint zweifelhaft. Denn diese Reform bedarf wohl ohnehin noch eines längeren Weges.

Des Weiteren könnte die Justiziabilität dieser Rechte insgesamt mit dem Argument in Frage gestellt werden, dass es sich den im Sozialpakt verankerten Rechten eben nicht um von einzelnen Personen einklagbare Rechte, sondern nur um allgemeine Zielformulierungen von nur geringer Bestimmtheit mit dem Ziel einer sukzessiven Umsetzung in den einzelnen Staaten handelt (3).

Allgemein könnten Zweifel am Nutzen einer Individualbeschwerde damit begründet werden, dass die Entscheidungen des Vertragsorgans zu den Beschwerden nicht den Charakter eines für den jeweiligen Staat rechtsverbindlichen Urteils haben. Sie sind lediglich Empfehlungen in Bezug auf einen Einzelfall. Die mangelnde Rechtsbindung und Durchsetzbarkeit ist jedoch ein das gesamte Völkerrecht betreffendes Defizit und spricht mithin nicht speziell gegen die Einrichtung eines Individualbeschwerdeverfahrens nach dem Sozialpakt.

Schließlich sind Bedenken berechtigt, dass ein Individualbeschwerdeverfahren weitaus mehr Arbeitsaufwand für das jeweilige Kontrollorgan bedeutet und folglich zeitnahe Entscheidungen kaum möglich sind. Auch Befürchtungen hinsichtlich eines gewissen Qualitätsverlustes der gesamten Kontrolltätigkeit des treaty body sind nicht von der Hand zu weisen (Stichwort “Überlastung” – ein gutes Beispiel ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, der sich deshalb reformieren will).

Für alle diese Punkte muss man sich offensichtlich organisatorisch vorbereiten. Aber es gibt natürlich auch die Erfahrungen der anderen vier VN-Vertragsorgane und so sind diese Punkte sicherlich lösbar.

Indessen lassen sich für die Einrichtung einer Individualbeschwerde eine gewichtige Zahl von Gründen anführen:

  1. Die Individualbeschwerde wird dem WSK-Expertenausschuss ermöglichen, den betreffenden Staat auf einen konkreten Fall, eine konkrete Menschenrechtsverletzung hinzuweisen. Dieser Aspekt sollte nicht unterbewertet werden, auch wenn der Staat eine Kritik in vielen Fällen zunächst einmal nicht ernst nehmen mag. Eine gerichtsähnliche Entscheidung – die Ausschuss formuliert seine Meinung (views), ohne dass es sich hierbei um eine Gerichtsentscheidung wie beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) handelt – über einen Einzelfall ist deutlich plakativer und greifbarer als allgemeine Empfehlungen zur Menschenrechtssituation. Hier wird dem Staat ja ein bestimmtes Fehlverhalten vorgeworfen, mit der Aufforderung, dieses Fehlverhalten zu ändern bzw. wieder gutzumachen. Verwaltungspraxis und auch Rechtsprechung können durch die Entscheidung des internationalen Gremiums beeinflusst, d.h. in eine menschenrechtsfreundlichere Richtung gelenkt werden.
  2. Mit dem Blick auf dringenden Beschwerden gäbe es die Möglichkeit einer sog. vorläufigen Entscheidung – gewissermaßen einer Eilaktion, durch die nicht wieder gut zu machende Schäden für die Beschwerdeführenden verhindert werden können – freilich nur, wenn die betreffenden Staaten der Empfehlung auch Folge leisten.
  3. Eine weitere Stärke der Individualbeschwerde liegt darin, dass sie, ähnlich wie die “Schattenberichte”, die Aufmerksamkeit auf bestimmte Menschenrechtsverletzungen bzw. bei einer bestimmten Häufung gleichartiger Fälle eine bestimmte innerstaatliche Praxis lenken kann, die von dem vom jeweiligen Staat in seinem Bericht “übersehen” worden sein mag. Häufig werden sich systematische Verletzungen von Einzelfällen ableiten lassen. Hier kann der Behandlung der Beschwerde eine Signalfunktion zukommen.
  4. Zudem gibt die Einzelbeschwerde der betroffenen Person die Chance, nicht hilflos dem eigenen Staat ausgeliefert zu sein (Stichwort “Defizite im nationalen Rechtsschutz/Gerichtssystem), sondern, wenn auch nicht “zuhause”, so doch bei einem internationalen Gremium, auf das die Welt “schaut”, rechtliches Gehör zu finden.
  5. Für die Arbeit des Expertenausschusses selbst hilft die Behandlung von Einzelfällen bei einer praxisnäheren Auslegung der Vorschriften des Paktes. Wie schon eingangs erwähnt, haben die Ausschüsse im Laufe der Jahre zu den Menschenrechtsnormen ihres Vertrages Kommentare verfasst, die weitaus detaillierter als die Artikel des Abkommens selbst die Staatenverpflichtungen interpretieren – und sie nutzen diese dann natürlich auch für die Bewertung der Staatenberichte. Die Behandlung individueller Fälle ist eine wichtige Hilfe für den Ausschuss, die Verpflichtungen in den General Comments, die ja für eine Vielzahl von sehr unterschiedlichen Ländersituationen gelten sollen, möglichst konkret zu formulieren, und tragen dadurch zu einer besseren Einhaltung des völkerrechtlichen Vertrages bei. Insofern fungieren sie als Realitätstests für den Expertenausschuss. Die Staatenberichte allein, selbst wenn man die “Schattenberichte” mit berücksichtigt, können dies so nicht leisten.

Schluss

Abschließend sei gesagt, dass der internationale Menschenrechtsschutz in den vergangenen Jahrzehnten bereits erfreuliche Fortschritte gemacht hat, insbesondere was Rechtssetzung und Monitoring-Mechanismen betrifft (Stichwort “Dualismus Standard Setting – Monitoring”). Die größten Defizite sind naturgemäß bei der Durchsetzung/Verwirklichung des Schutzes zu finden. Diesen Bereich in enger Verbindung mit dem Monitoring weiter auszubauen und zu verbessern, muss das Anliegen von Staatengemeinschaft und Zivilgesellschaft sein. Die Individualbeschwerde kann einen wesentlichen Beitrag zur Institutionalisierung bzw. “Verrechtlichung” der Menschenrechte leisten. Daher sollte sie Teil eines jeden Menschenrechtsabkommens sein.

_________

(1). Kontakt: Deutsches Institut für Menschenrechte – German Institute for Human Rights, Zimmerstr. 26/27, 10969 Berlin, Germany, Tel: (+49) (0)30 – 259 359 0, Fax: (+49) (0)30 – 259 359 59, e-mail: info@institut-fuer-menschenrechte.de; heinz@institut-fuer-menschenrechte.de

(2). Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (International Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination), Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (International Convenant on Economic, Social and Cultural Rights), Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte (International Convenant on Civil and Political Rights), Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women), Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (Convention against Torture and Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment), Übereinkommen über die Rechte des Kindes (Convention on the Rights of the Child).

(3). Vgl. hierzu die beiden neuen Studien des Deutschen Instituts für Menschenrechte: Marita Körner, Das Internationale Recht auf Arbeit. Völkerrechtliche Anforderungen an Deutschland, Berlin 2004 und Jakob Schneider, Die Justiziabilität wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte, Berlin 2004.

Schlagworte: , , , ,

Kommentare sind geschlossen