Elisabeth Käsemann und die studentische Dritte-Welt-Solidarität

8. Juli 2013 | Von | Kategorie: Rezensionen

Dorothee Weitbrecht: Aufbruch in die Dritte Welt. Der Internationalismus der Studentenbewegung von 1968 in der Bundesrepublik Deutschland, V & R unipress, Göttingen 2012, 421 Seiten

Diese bisher umfassendste Studie über den internationalistischen Impuls, der die deutsche Studentenbewegung der „Achtundsechziger“ wesentlich mitprägte und mit initiierte, ist nicht nur wegen ihres Inhalts bemerkenswert. Die Autorin hat zum Gegenstand ihres gut lesbaren Buches, das auf ihrer Dissertation im Fach Geschichtswissenschaft an der Universität Eichstätt beruht, einen sehr persönlichen Bezug, den sie in der Einleitung nur kurz benennt. Dorothee Weitbrecht ist die Nichte von Elisabeth Käsemann, der bekanntesten der zahlreichen deutschen und deutschstämmigen Personen, die von der argentinischen Diktatur in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts „verschwunden wurden.“[1] Sie hat sich über viele Jahre an den Bemühungen in Deutschland, wie vor allem in der „Koalition gegen Straflosigkeit“, beteiligt, das Schicksal von Elisabeth Käsemann und der übrigen deutschstämmigen Verschwundenen aufzuklären und die dafür Verantwortlichen vor Gericht zu bringen.[2] Davon ist in diesem Buch nun kaum die Rede. Elisabeth Käsemann steht gewissermaßen im Hintergrund der Untersuchung, aber nicht wie sonst fast ausschließlich als Opfer, sondern als engagierte junge Frau, die sich als Teil einer internationalen und internationalistischen Bewegung verstand. Indem Dorothee Weitbrecht sich mit aller gebotenen wissenschaftlichen Gründlichkeit den Ursprüngen, Wegen und Irrwegen dieser Bewegung widmet, tritt die Person Elisabeth Käsemanns in den Hintergrund, die weithin sichtbaren Gesichter dieser Bewegung waren andere Protagonisten wie Rudi Dutschke, Hans-Magnus Enzensberger oder Helmut Gollwitzer. Weitbrecht zeichnet die Geschichte dieser Bewegung mit zahlreichen Details nach, gestützt vor allem auf die Analyse der einschlägigen Zeitschriften und viele Interviews. Ihre Stationen sind bekannt: Von den Anfängen der Solidarität mit dem algerischen Befreiungskampf und dem damit verbundenen Kampf gegen die Folter durch die französischen Sicherheitskräfte, der Solidarität mit Griechenland, dem Iran, verschiedenen afrikanischen Ländern, bis hin schließlich zu der massenhaften Anti-Vietnamkriegs-Bewegung und gleichzeitig der Solidarität mit der Bewegungen der Schwarzen in den USA. Aber auch die Opposition gegen die Regime in Polen und der Tschechoslowakei wurde zu einem wichtigen Bezugspunkt großer Teile der studentischen Linken. Dorothee Weitbrecht stellt die Stärken und Schwächen dieser verschiedenen, nicht immer miteinander eng verwobenen Teilbewegungen nüchtern dar, zeigt wie sie von den Entwicklungen des generellen theoretischen gesellschaftskritischen Diskurses der Studentenbewegung beeinflusst waren, wie aber auch einzelne Personen mit ihren konkreten Erfahrungen aus diesen Ländern die Theorieentwicklung beeinflussen konnten.

Sehr zu Recht arbeitet Weitbrecht auch die große Bedeutung vor allem evangelischer Theologen und überhaupt christlicher Motivation in dieser Solidaritätsbewegung mit der Dritten Welt heraus. Nicht nur Rudi Dutschke kam aus einen christlichen Milieu und wurde von dem Theologieprofessor Helmut Gollwitzer beeinflusst. Die Rolle der Evangelischen Studentengemeinschaft (ESG) und die der „Theologie der Revolution“ von Gollwitzer und anderen, die ja in der katholischen lateinamerikanischen „Theologie der Befreiung“ und in Figuren wie dem kolumbianischen Guerillapriester Camilo Torres direkte Bezugspunkte hatte, erhält bei Weitbrecht das Gewicht, das ihr ohne Zweifel zukommt.

Auf diesem Hintergrund vermag die Autorin dann auch die Bedeutung Lateinamerikas in dieser internationalistischen Bewegung genauer herauszuarbeiten. Außer vielleicht Gaston Salvatore sind die Köpfe der studentischen Lateinamerikabewegung heute kaum noch geläufig. Weitbrecht holt sie in ihrem Kapitel über den Berliner Lateinamerika-Arbeitskreis in Erinnerung und zeigt, wie stark gerade auch Rudi Dutschke von den partiellen Erfahrungen und Positionierungen einiger weniger Lateinamerikaner in Berlin beeinflusst war. Elisabeth Käsemann gehörte zu dem kleinen Kreis von AktivistInnen, die aus dieser sehr begrenzten Erfahrungswelt ausbrachen und sich zu einem mehr oder weniger permanenten Aufenthalt in Lateinamerika entschlossen. Die kleinen Monografien von zwölf solcher politischer Reisenden aus dem Umkreis des Berliner SDS gehören zu den originellsten Passagen des Buches und schließen auch den Kreis, weil hier Elisabeth Käsemann wieder ins Blickfeld rückt, auch wenn die Autorin sich strikt enthält, sie in den Vordergrund zu stellen. So bringt sie das Kunststück fertig, ihrer Tante Elisabeth Käsemann ein würdiges Denkmal durch eine streng wissenschaftliche Darstellung des geistigen und moralischen Umfelds zu setzen, in dem diese sich als Persönlichkeit entwickelte, ohne sie selbst in den Mittelpunkt zu stellen. Gerade deswegen gelingt es ihr, hinter dem Gedenken an Elisabeth Käsemann als Opfer der argentinischen Diktatur die Erinnerung an eine lebendige Frau zu lenken, die den Sinn ihres Lebens darin sah, sich für mehr Gerechtigkeit in der Welt einzusetzen.

Rainer Huhle


[1] s. dazu auch die Artikel von Esteban Cuya, Kuno Hauck, Dieter Maier u.a. auf www.menschenrechte.org

[2] vgl. ihren aktuellen Beitrag „Argentinien: Profite versus Leben“ in: Blätter für deutsche und internationale Politik 7, 2013, S. 93 – 104

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