von Rainer Huhle
Die Dissertation von Ebbo Schröder ist, wie der Autor zu Recht anmerkt, die erste gründliche Untersuchung der Rolle der Medien in den Nürnberger Prozessen. Wie der Titel sagt, beschränkt sich Schröders Arbeit auf den Hauptkriegsverbrecherprozess, das IMT. Es gibt aber gute Gründe für die Annahme, dass hier die Strukturen der Beziehung zwischen den direkten Prozessbeteiligten und den Medien geprägt wurden, die in den anderen Verfahren keine wesentlichen Veränderungen erfuhren. Was der Titel allerdings nicht sagt, ist eine weitere Einschränkung, für die es sicher gute Gründe gibt, die aber doch klar kommuniziert werden sollte: Schröders Studie bezieht sich ausschließlich auf die angelsächsischen Medien. Diese beherrschten damals zwar den „Weltmarkt“ und sind zweifellos die relevantesten und repräsentativsten Vertreter der Zunft. Dennoch wäre es durchaus auch spannend zu erfahren, wie etwa die französischen Medien über den Prozess berichteten, welche besonderen Aspekte und Sensibilitäten sie eventuell einbrachten und wie sie die dominante Rolle der angelsächsischen Medien mit ihrem privilegierten Zugang zu den amerikanischen und britischen Protagonisten des Prozesses beurteilten.[i] Gelegentlich in einzelnen Kapiteln eingestreute Bemerkungen des Autors über Probleme von Journalist*innen aus anderen Ländern bleiben anekdotisch, veranlassen ihn nicht, über die Relevanz dieser Erfahrungen für Grundthesen des Buches zu reflektieren. Den Rezensenten machen sie umso neugieriger.
Aber wenn wir das Buch als eine Studie über die Beziehungen angelsächsischer – und hier insbesondere US-amerikanischer – Medien zu den Hauptakteuren des IMT, wiederum vor allem der amerikanischen Anklagebehörde, erweist sie sich als ausgesprochen erkenntnisreich. Gestützt auf umfangreiches unveröffentlichtes Archivmaterial und einschlägige Sekundärliteratur über den Nürnberger Prozess arbeitet Schröder die Interessen der Anklagebehörden an der Berichterstattung über den Prozess und die Bedürfnisse der Reporter*innen, Agenturen und Medienhäuser an attraktiven Berichten plastisch heraus. Chefankläger Jackson war sich der Bedeutung der Medien bewusst, um seine in mancher Hinsicht gewagte und innovative Prozessstrategie gegen viele kritische Stimmen, auch unter Juristenkollegen, in den USA und weltweit zu erläutern und zu verteidigen. Das Gericht hatte schon am 11. Oktober 1945 beschlossen, dass kein Mitglied oder Mitarbeiter des Tribunals Presseinterviews geben solle.[ii] Jackson holte sich stattdessen den erfahrenen Medienmann Gordon Dean als Pressesprecher, der geschickt den Umgang mit den Medien pflegte und in die von Jackson gewünschte Richtung zu beeinflussen suchte. Ein programmatisches Statement zu Beginn seiner Arbeit nannte Dean ganz im Sinn seines Arbeitgebers „An Educational Program in Connection with the Prosecution of the Major War Criminals“.
Doch das gemeinsame Ziel, das Dean und Jackson verfolgten, musste auch zu Konflikten führen. Denn während für Jackson die Befolgung der Regeln eines fairen Prozesses und einer soliden Beweisführung zentral für seine Strategie waren, die Idee eines gerechten Prozesses zu vermitteln, sah sein Pressesprecher die Notwendigkeit, den Journalisten mehr Futter zu geben, damit sie anschauliche Stories in ihren Redaktionen unterbringen konnten. Jacksons Insistieren auf hauptsächlich deutschen Akten als Beweismitteln und sein Misstrauen gegenüber Zeugen im Interesse einer „sounder foundation for the case“ waren dafür wenig geeignet. Dean drängte daher auf die Vorladung von Zeugen für die Anklage, und da dies nur begrenzt erfolgreich war, lieferte er aus dem enormen Aktenfundus der Nazis gezielt einzelne Stücke an ausgewählte Presseleute, um sie „einen voyeuristischen Blick auf die Geheimnisse des Feindes“ – so Schröder – werfen zu lassen und damit bei Laune zu halten. Die Beschreibung des von gemeinschaftlichen Interessen, aber auch erheblichem Konfliktpotential geprägten Verhältnisses zwischen den amerikanischen Medienvertreter*innen und Jacksons Pressestab gehört zu den besonders gelungenen Abschnitten des Buches und trägt über das engere Thema hinaus Neues zum Verständnis der Dynamik des IMT bei.
Wie Schröder im nächsten Abschnitt darlegt, unterschied sich das Verhältnis zwischen den britischen Anklägern und den Medien in mancher Hinsicht signifikant von den Amerikanern. Sowohl die britische Anklagebehörde als auch die Zahl der Korrespondenten war deutlich kleiner und die Beziehungen zueinander persönlicher. Das führte jedoch keineswegs zu mehr Einfluss der britischen Ankläger oder der britischen Regierung auf die Berichterstattung. Und das, obwohl die britische Anklage (wie auch die sowjetische) nicht die eher abstrakten Fragen der Legitimität des deutschen Angriffskriegs zu behandeln hatte, sondern sich auf die konkreten Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit konzentrierte, Themen also, die eher für mediale Verarbeitung geeignet schienen. Wie Schröder belegt, zeigten sich die britischen Ankläger jedoch bestürzt über das geringe Interesse der britischen Medien an der Berichterstattung, als die sowjetischen und französischen Ankläger die Details des Holocausts und des Vernichtungskriegs im Osten vortrugen. Die leitenden Medienvertreter erklärten das mit der Ermüdung des Publikums. Die Situation änderte sich allerdings, als gegen Ende des Verfahrens Chefankläger Shawcross und sein Stellvertreter Maxwell-Fyve wieder ins Rampenlicht rückten und in ihren Schlussplädoyers eindrucksvoll den Horror der Naziverbrechen Revue passieren ließen. Gerade Shawcross machte dabei den Begriff der „Verbrechen gegen die Menschheit“ stark, der bei den Amerikanern wenig Beachtung gefunden hatte, und nahm auch den von Lemkin auf den Fluren des Gerichts immer wieder eingeforderten neuen Begriff des Genozids zur Beschreibung dieser Verbrechen auf.[iii]
Die dritte Gruppe, die der Autor nach den US-Amerikanern und Briten betrachtet, sind die deutschen Verteidiger, wiederum in ihrem Verhältnis zu den amerikanischen und britischen Journalisten. Schröder beschreibt, wie sich diese beiden Gruppen gegenseitig auszunutzen versuchten. Die Presseleute erhofften sich von Gesprächen mit den Verteidigern – oder in wenigen Fällen über diese auch mit Angeklagten – mehr oder weniger sensationelle Einblicke in die Abgründe der Naziverbrechen, vor allem in den langen Wochen, in denen die Verteidiger nur den Anklagen zuhören konnten. Diese wiederum lernten rasch, die Gelegenheit für Stellungnahmen oder die Verbreitung von Dokumenten zu nutzen, die ihnen im Verfahren selbst nicht gestattet war. Höhepunkt dieses wechselseitigen Spiels war sicher die Auseinandersetzung um das geheime Zusatzprotokoll zum Nichtangriffspakt zwischen Hitler und Stalin.
Gerade nach diesem kurzen Kapitel bedauert man die Beschränkung der Studie auf die US-amerikanischen und britischen Medien. Wie arbeiteten im Vergleich die deutschen Journalisten, die über keine so organisierte Medienstruktur verfügten wie die Angelsachsen, großenteils unabhängig berichten mussten oder für die gerade erst wieder entstehenden, von den Alliierten neu zugelassenen Medien. Welche Themen interessierten so prominente Berichterstatter wie Willy Brandt, Markus Wolf und Robert Jungk, oder den Reporter der Süddeutschen Zeitung W.E. Süskind und den erfolgreichen Hochstapler „Gaston Oulmàn“ alias Lherman, der fast täglich für Radio München den Prozess kommentierte?[iv] Und wie verhielt sich deren Berichterstattung zu den Erwartungen des deutschen Nachkriegspublikums? Oder wie sahen die Medien in den von der Nazi-Besetzung befreiten Ländern auf den Prozess, an dem ihre Staaten zwar laut Statut Mitveranstalter waren, an dem sie aber nichts zu sagen hatten, wie es etwa die polnische Zeugin Seweryna Szmaglewska so bitter anschaulich beschreibt?[v] Warum berichteten gerade skandinavische Medien relativ ausführlich und kompetent über die Erkenntnisse, die das IMT über den Holocaust zutage förderte?[vi]
Im zweiten Teil des Buches geht Schröder dann tief ins Detail dessen, was er „Journalistische Praxis im organisatorischen Kontext“ überschreibt. Wiederum an Beispielen aus den USA und Großbritannien bietet er eine gründlich recherchierte Sicht auf das Verhältnis zwischen den großen Nachrichtenagenturen und den Redaktionen wichtiger Medienhäuser und ihren Korrespondent*innen. Ein geschickter Einstieg ist dabei die Vorstellung der an kein Medium angebundenen Journalistin Pauline Frederick, die sich als freie Journalistin ins Nachkriegsdeutschland und nach Nürnberg begeben hatte. Indem er die immensen Schwierigkeiten Fredericks aufzeigt, allein schon die logistischen Probleme in der damaligen Zeit zu bewältigen, vor allem aber bei der Auswahl ihrer Themen die jeweiligen Erwartungen der Medienhäuser zu treffen, selbst da, wo sie bereits Arbeitskontakte gehabt hatte, setzt der Autor die Themen, die er anschließend ausführlich an ausgewählten Beispielen analysiert. Hier wird der Nürnberger Prozess tatsächlich, wie es der Untertitel des Buches ankündigt, zu einer Fallstudie in der Mediengeschichtsschreibung. Das IMT gerät dabei in den Hintergrund, die Beziehungen zwischen dessen Akteuren und den Journalisten wurden ja bereits im ersten Teil abgehandelt. Bei der Analyse der Beziehungen zwischen Journalisten und Medienhäusern scheinen die in Nürnberg verhandelten Themen nur noch als Beispiele für das Spannungsfeld auf, das sich zwischen den Journalisten vor Ort und den Chefetagen in New York oder London hinsichtlich der Prioritätensetzung auftat. Dabei ergeben sich interessante Details zur Rezeptionsgeschichte des Prozesses, aber auch wichtige Hinweise darauf, mit welcher Vorsicht diese angesichts der Filter in den großen Redaktionen zu analysieren ist.
Insgesamt stellt das Buch, trotz der bedauerlichen und nicht erklärten Beschränkung auf die USA und Großbritannien, einen interessanten Beitrag mit neuen Erkenntnissen zur umfangreichen Bibliografie der Nürnberger Prozesse dar. Angesichts der Fülle von Daten und außerhalb eines Fachpublikums oft unbekannten Namen ist es allerdings ärgerlich, dass dem umfangreichen Band kein Stichwort- und Namensverzeichnis gegönnt worden ist.
[i] Einige Anmerkungen zur Rezeption des Prozesses in französischen Medien bei Gemählich, Matthias: Frankreich und der Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher 1945/46, Berlin etc. (Peter Lang) 2018, S. 284ff und bei Tisseron, Antonin: La France et le procès de Nuremberg. Inventer le droit international, Paris (Les Prairies ordinaires) 2014, S. 216 ff.
[ii] INTERNATIONAL MILITARY TRIBUNAL, Minutes of the Morning Meeting of October 11, 1945.
[iii] Der Begriff „genocide“ war Teil des von Schröder in Anlehnung an Priemel und andere hervorgehobenen Lernprozesses während der Verhandlungen. In der Gründungsurkunde des Tribunals, der Londoner Charta, wurde er, anders als Schröder behauptet (S. 135), nicht verwendet. Er tauchte dann zwar in einem Satz in der Anklage auf, allerdings unter dem Titel „Kriegsverbrechen“. Erst im Verlauf des Prozesses erhielt er, zusammen mit „Crimes against humanity“ das semantische Gewicht, das ihn bis heute begleitet.
[iv] Zur Berichterstattung der „Neue Zeitung“, dem von den Besatzungsbehörden geförderten Blatt, s. Gienow?Hecht, Jessica: „Trial by fire: Newspaper coverage of the Nuremberg proceedings“, in: Studies in Newspaper and Periodical History (1995), vol. 3, issue 1-2, 167-183.
[v] Szmaglewska, Seweryna: Die Unschuldigen in Nürnberg, Frankfurt/M (Schöffling) 2022.
[vi] Holmila, A. (2021). ‘A Hellish Nightmare’: The Swedish Press and the Construction of Early Holocaust Narratives, 1945–1950. In: J. Heuman, & P. Rudberg (Eds.), Early Holocaust Memory in Sweden: Archives, Testimonies and Reflections (pp. 163-187); Holmila, Antero: Portraying Genocide. The Nuremberg Trial, the Press in Finland and Sweden and the Holocaust, 1945-46, Acta Societatis Martensis (2005), 206-220.